München

Ich bezog mein möbliertes Zimmer in der Victor-Scheffel-Straße in Schwabing. Ein ehemaliger Schulfreund studierte Medizin in München, er kam kurz nach dem Einzug zur Victor-Scheffel-Straße, um mich zu einem Bummel durch Schwabing abzuholen. Meine Wirtinnen, zwei alte Jungfern, traten nach kurzem Klopfen in mein Zimmer und sagten: „Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, aber wir erlauben nicht, daß je ein Herr die Schwelle Ihres Zimmers überschreitet. Sie können ihn jetzt in unserem Beisein in unserem Wohnzimmer sprechen.“ Ich habe sogleich für den nächsten Ersten gekündigt. Schade, der Preis war günstig – 30 RM, und das Zimmer war sauber, hell und gemütlich. Mein nächstes möbliertes Zimmer war in der Türkenstraße / Ecke Rambergstraße mit Blick in den Akademiegarten. Es war ebenfalls sauber, hell und gemütlich, das Klima dort schien aber großzügig zu sein.

Ich hatte mich für die Bildhauerklasse von Prof. Richard Knecht (1887-1966) angemeldet, dessen Maler Ligges-Bildnisbüste (Georg Ligges, 1886-1944) ich in einer Kunst- und Literaturzeitschrift gesehen und bewundert hatte. Der melancholische, sensible Ausdruck dieses männlichen Gesichtes wäre in der üblichen Nazikunst kaum dargestellt worden. Hier war ein Künstler, der es wagte, eigene Wege zu gehen.

Mit den besten Vorsätzen, mich mit Haut und Haaren der Kunst zu verschreiben, betrat ich das ehrfurchtgebietende Gebäude, dankbar und stolz, zu den Auserwählten zu gehören, die hier studieren durften. In den Kellerräumen befand sich die Verwaltung. Ich füllte die notwendigen Formulare aus, verpflichtete mich, alle Vorschriften zu respektieren, selbst für den Pflichtsport trug ich mich ein ohne Abscheu gegen den Zwang zu empfinden.

Dann aber nahte das Verhängnis, die Pranke des braunen Tigers traf auch mich. Die Eintragung zum NS-Studentenbund wurde ebenso zur Pflicht. Wir waren die ersten Akademiestudenten, die dazu gezwungen wurden. Hätten wir uns geweigert, wären wir nicht zum Studium zugelassen worden. Nun hatten mich die Nazis trotz all meiner Schliche in den vergangenen Jahren doch noch in ihre Netze bekommen, ausgerechnet hier auf meinem „Mont Blanc“. Ich war sehr unglücklich darüber, was würden mir in Zukunft für Unannehmlichkeiten daraus entstehen? Die Akademie in München war dafür bekannt, nicht nationalsozialistisch gefärbt zu sein wie die Hochschule für bildende Künste in Berlin. Unsere Studenten waren reaktionär gesinnt, darin schienen sich alle einig zu sein.

Meine Bildhauerklasse lag im Souterrain, auf den Korridoren standen unzählige kopierte griechische Skulpturen. Schüchtern betrat ich unsere Arbeitsräume. Die Studenten waren bereits dabei, ihre großen Gerüste aufzubauen. Unter den etwa 25 Studenten waren nur drei weibliche, darunter eine Nonne. Zwei Aktmodelle standen auf ihren Podesten. Wir gegrüßten uns alle freundlich und dann zeigte man mir meinen Platz zwischen ihnen.

Die riesigen Fenster, die bis zur Decke reichten, gaben ein herrliches Licht, der Blick hinaus führte in den Akademiegarten. Professor Knecht trat herein, begrüßte jeden einzeln, wobei wir unsere Namen und die bisherige Ausbildung angaben. Auch er begann sein erstes Semester als Professor an der Akademie. Er war ein stämmiger, mittelgroßer Schwabe. Seine strahlende Liebenswürdigkeit und Wärme zog uns alle sogleich in ihren Bann. Er wurde uns zur Vaterfigur, der wir vertrauten.

Der Tagesablauf wurde mir wie folgt erklärt: Von acht Uhr bis mittags modellieren eines überlebensgroßen Aktes in Ton, von halb drei bis vier Uhr Portrait modellieren, wofür wir uns ein Modell am Montagmorgen vom Modellmarkt in der Akademie-Eingangshalle mieten mußten. Von fünf bis sieben Uhr war für alle Studenten der Akademie in einem großen Saal Aktzeichnen unter der Leitung von Prof. Mayhofer.

Es gab zu der Zeit vier Bildhauerklassen:
Von Prof. Thorak, dessen Schüler zum größten Teil auf Leitern stehend an riesigen Skulpturen arbeiteten;
Prof. Wackerle, dessen schöner Brunnen im Botanischen Garten hinter dem Justizgebäude stand;
Prof. Bleeker, der ein Schüler Prof. Hahns war, aus dessen Klasse viele hervorragende Bildhauer stammten. Prof. Bleeker schuf das Kriegerehrenmal des Ersten Weltkrieges nahe dem Hofgarten. Seine Portraits waren von feiner Innerlichkeit und plastischer Kraft;
Prof. Knecht, der ebenso durch fein durchgestaltete Skulpturen und ausdrucksvolle Portraits bekannt war. Die Professoren für Malerei und Grafik waren Prof. Schinnerer, Prof. Caspar, Prof. Ziegler, Prof. Mayrhofer, Prof. Gulbransson.

Prof. Knecht machte uns vorwiegend mit griechischer Plastik vertraut, er erklärte sie uns vor den großen Kopien in Gips und anhand von Fotografien und Kunstbüchern. Niemals hat er die Kunstrichtung der Nazis vertreten, über das Haus der Deutschen Kunst sprachen wir nicht mit ihm. Seine dort ausgestellten Bildnisbüsten standen zwischen all dem leeren Pathos und Kitsch wie Zeugen einer geistigeren Vergangenheit. Er war ein sehr guter Pädagoge. Er kam ein- bis zweimal in der Woche in die Klasse, feuerte uns an. Zur großen Korrektur zog er sein Jacket aus, der Schlips wurde gelöst, die Ärmel hochgekrempelt und dann flogen die von ihm abgefetzten Tonstücke nur so durch den Raum.

„Ihr müßt Euch die Formen des menschlichen Körpers ganz genau ansehen, Euch daran berauschen und dann arbeiten wie die Berserker. Jedes Gesicht besteht aus einem zusammenhängenden Netz von Linien ganz persönlicher Art, das müßt Ihr zunächst erkennen, ehe Ihr mit dem Modellieren beginnt. Augenbrauen, Nasenflügel, die Konturen des Mundes und die Falten ergeben im rhythmischen Zusammenhang eine Einheit.

Drei meiner Mitstudenten sah man jedes Jahr in der großen Kunstausstellung im Haus der Kunst, vorwiegend mit Kleinplastiken, außerdem stehen von ihnen Plastiken in Münchens Straßen: Ruth Speidel (* 1916), Marlene Neubauer-Wörner (* 1918 in Landshut) und Marianne Lüdicke (* 1919 in Frankfurt am Main). Weitere Mitstudenten der anderen Klassen waren Prof. Georg Brenninger (1909 - 1988), Walter Klose (1921 - 2003 in München), Otto Weber und Henry Meyer-Brockmann vom „Simplizissimus“.

Das Anschaffen der Handwerkzeuge waren feierliche und höchst wichtige Beschäftigungen, ebenso das sorgfältige zu bauende Gerüst brauchte ganze Konzentration. Das darauf folgende Modellieren in Ton auf das Gerüst mußte mit der gleichhen Sorgfalt und Ruhe ausgeführt werden, ehe man begann, die großen Formen des Aktes aufzutragen. Wurde die erste Arbeit zu schnell und flüchtig gemacht, mußte man damit rechnen, daß früher oder später Risse entstehen würden. Das konnte zur Folge haben, daß ganze Partien des Aktes noch nach Wochen mühsamer Arbeit herunterfielen. Eine weitere Überlegung erforderte das richtige Feuchthalten des Tonmodells. Die Tücher, mit denen man die Plastik über Nacht einwickelte, durften weder zu naß noch zu trocken sein. Zur Bildhauerei eignen sich eben am besten die Bedächtigen, die ein Kunstwerk wie ein solider Handwerker entstehen lassen.

Beim Aktzeichnen am späten Nachmittag lernten sich alle Studenten der Akademie untereinander kkennen. Die Atmosphäre dort konnte beflügeln durch die Diskussionen und gegenseitigen Anregungen. Es wurde dort mit großem Eifer gearbeitet. Wir hatten als Modelle oft sehr schöne jungen Mädchen aus Südfrankreich, wie Maillol - den wir sehr verehrten - sie bevorzugte.

Ich war glücklich und zufrieden mit meinem Studium. Soweit lief alles bestens.

Es kam der Tag, an dem wir uns zur ersten N.S. Studentenbundversammlung einfinden mußten. Ich setzte mich in die hinterste Reihe. Nach dem üblichen „Heil Hitler“ und Absingen von „S.A. marschiert ...“ wurden wir Neuen begrüßt.

„Wir möchten von nun ab die Studenten der Universität und der Akademie voneinander trennen, daß die Akademie nicht mehr dem Studentenbund der Universität unterstellt sein wird, sondern ihre eigenen Vorstellungen von künstlerischen Einrichtungen innerhalb des allgemeinen Studentenbundes verwirklichen kann. Das kann sich auf Ausstellungen, Vorträge etc. beziehen. Dafür brauchen wir zunächst einmal einen Führer aus der Akademie. Wir haben dafür unsere Wahl getroffen – Anna X.“
Das war ich!

Ich mußte in dem Augenblick meine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um ihnen nicht zu zeigen wie groß meine Abneigung gegen sie war und wie unmöglich für mich, diesen Posten zu übernehmen.

Ich erklärte ihnen während der darauffolgenden Besprechung im kleinen Kreise, daß ich durch den Buchhandel schon so viel Zeit verloren hätte, daß ich nicht auch noch Zeit für diese verantwortungsvolle Aufgabe erübrigen könne.

Man wollte mich damit locken, daß ich sogleich ein eigenes Meisteratelier bekommen würde und Studienreisen nach Paris und Italien. Ich lehnte weiterhin ab mit der Begründung, daß ich absolut keine Führungseigenschaften besäße. Das alles half jedoch nichts, sie bestanden darauf. Die Gaustudentenführerin bat mich zu sich und versuchte mich zu überreden. Ich entgegnete ihr, daß ich die meisten von ihnen als „entartet“ verurteilten Kunstwerke sehr schätzen würde und deshalb nur mit halbem Interesse meine Aufgabe erfüllen könne. Darauf erwiderte sie: „Das macht gar nichts in unserem Fall, im Gegenteil, umso eher wirst Du das Vertrauen der meisten Akademiestudenten gewinnen. Wir kennen die Situation hier.“

Kurze Zeit später mußte ich zur Gaustudentenführung kommen. Dort entdeckte ich, daß der Gaustudentenführer B. aus meiner Heimatstadt stammte, wo mein Onkel Oberbürgermeister war (Bruder der Mutter: Dr. jur. Heinrich Karl Paul Rabeling, 1933 – 1945 Oberbürgermeister der Stadt Oldenburg). Vielleicht vermutete er aus diesem Grunde auch bei mir Führungsfähigkeiten. Die Herkunft der anderen Studenten war ihm nicht so bekannt.

Außerdem konnte nur unter den Neuen ein Führer ausgesucht werden, weil die älteren Semester als durchweg politisch uninteressiert, ja sogar als reaktionär bekannt waren, was erstaunlicherweise geduldet wurde.

Die Münchner Akademie war für Hitler tabu. Er hatte seiner besonderen Kunstliebe wegen gerade für die Münchner Akademie eine ungewöhnliche Nachsicht angeordnet. Dieser Tatsache verdankten wir, daß wir uns vieles erlauben konnten, was andernorts bestraft worden wäre.

Im Raum der Gaustudentenführung erwarteten mich mehrere Personen in brauner Uniform. Dann sagte der Gaustudentenführer zu mir: „Wir haben gehofft, daß Du Dich freiwillig bereiterklärst für Deine neue Aufgabe. Da Du immer noch zögerst, befehlen wir es Dir!“

Ich glaubte im Erdboden versinken zu müssen und vergaß in meinem Zorn jede Vorsicht: „Es ist mir unmöglich, diesen Posten zu übernehmen, denn ich bin keine Nationalsozialistin!“
„Dann wirst Du es! Dafür haben wir unsere Schulungslager, wir werden Dich dorthin überweisen!“ Das war B’s letztes Wort. Man ließ mich gehen.

Ich besprach meine Situation mit meinen Freunden.
„Melde Dich zum Kriegsdienst“ riet man mir, „dann bist Du vor ihnen sicher.“
Wir überlegte, wo und für was ich mich melden sollte. Lazarettätigkeit schien mir das Naheliegenste zu sein. Ich bat den Chefarzt Dr. Meyer der Münchner Lazarette um eine Unterredung. Er hatte sogleich eine Verwendung für mich. Er wollte mich für den therapeutischen Werkunterricht einsetzen und versprach mir, die Gaustudentenführung über meinen Kriegseinsatz in den Lazaretten zu unterrichten. Ich hörte dann auch nichts mehr von ihnen.

Studenten der Akademie der Angewandten Kunst lehrten mich die kunsthandwerkliche Bearbeitung von Leder, Messing, Kupfer und Holz. Ich wurde außerdem von einem Arzt in die medizinisch-therapeutische Behandlung der Verwundeten eingeführt und abschließend nach bestandener Prüfung bestätigte man mir die Befähigung, Lehrerin im Therapeutischen Werkunterricht zu werden.

Ich arbeitete von nun an neben dem Studium in vier Lazaretten mit je 30 bis 40 Verwundeten. Ich hatte das erforderliche Material zu besorgen und jeden Verwundeten seiner besonderen Situation entsprechend in seine Arbeit einzuführen.

Wir waren in jedem Lazarett mit drei bis vier Lehrerinnen tätig. Das Zusammensein mit den Verwundeten wurde für mich zu einer schweren seelischen Belastung. Die meisten von ihnen waren in der Blüte ihrer Jugend. Zum ersten Mal stand mir die Bestialität des Krieges deutlich vor Augen. Umso mehr sah ich meine künstlerische Tätigkeit als gerechtfertigt.

SCHWABING

1938 lernte ich in Berlin Aglaia Seidel kennen. Die Cousine Victors Irmela aus Wiesbaden führte mich zu ihr, als sie im Lettehaus kochen lernte. Sie waren zusammen in Wiesbaden zur Schule gegangen. Aglaia ist die Tochter des Schriftstellers Willy Seidel und Nichte Ina Seidels. Sie lebte nun in München und ich besuchte sie in ihrer Pension „Romana“ in der Akademiestraße.

Ich überredete sie, auch in der Akademie Bildhauerei zu studieren, da sie bislang in einer privaten Kunstschule war. Bei ihrer nachträglichen Prüfung modellierte sie ein so gutes Portrait, daß sie in die Wackerle-Klasse aufgenommen werden konnte.

Wir waren im gleichen Alter und von gleicher Begeisterungsfähigkeit, für alle Gebiete der Kunst aufgeschlossen. Unsere romantischen Schwelgereien schufen eine Mauer um uns, die uns zeitweise die brutale Wirklichkeit vergessen lassen konnte. Alle Unternehmungen wurden gemeinsam erlebt – Theater, Konzerte, Wanderungen und Ausstellungen. Wir lernten zusammen Gedichte auswendig, konnten über die gleichen Dinge lachen. Wir hatten voreinander kein Geheimnis. So eine Freundin hatte ich noch nie zuvor gehabt – wir waren unzertrennlich.

Wir waren gleich groß, obwohl sie durch ihre knabenhaft schlanke Gestalt kleiner als ich wirkte. Unsere Haare fielen auf die Schultern, ihres kastanienbraun, meines aschblond. Wir trugen schwingende Faltenröcke, unsere hohen Absätze waren immer schiefgetreten durch unseren unbekümmerten Gang.

Aglaias Vater wurde im ersten Weltkrieg während einer Reise durch die USA in Ohio interniert und heiratete dort die Engländerin Sylvia M.G. Aglaia und ihr Bruder Gerhard wurden dort geboren. Kurz nach ihrer Rückkehr nach dem Kriegsende ließen sich ihre Eltern scheiden. Aglaia und ihr Bruder verbrachten dann die meiste Zeit ihrer Kindheit in Internaten. Beide Eltern heirateten wieder, der Vater in München, die Mutter in Wiesbaden. Als Aglaia achtzehn Jahre alt war, starben beide Eltern kurz nacheinander im selben Jahr. Als wir uns begegneten, war ihr Bruder bereits Soldat. Aglaia war von Geburt Amerikanerin, hatte es aber vorgezogen, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, um im Kriege für ihren Bruder erreichbar zu sein.

Es verging kaum ein Abend an dem wir nicht zusammen ausgingen. Was immer wir auch unternahmen, die letzten Stunden des Abends verbrachten wir in einem der Schwabinger Künstlerlokale. Da gab es z.B. den Buchhändler „Paul Steinicke“ in der Adalbertstraße, Treffpunkt der Intellektuellen und Gleichgesinnten. Ich lernte dort den Verleger Herbert Kluger, den Musikinstrumente Sammler Neuner und den Antiquitätenhändler Brettscheider kennen. Jeder von ihnen erweiterte unsere Kenntnisse auf den Gebieten ihres Fachs. Hinter dem Vorhang einer alten Bühne konnten wir zu verbotenen Jazzplatten tanzen.

Die nächste Stätte des bevorzugten Aufentalts war Prosels „Simpl“ in der Türkenstraße. Wo einst Kathi Kobus und Ringelnatz ihre Gäste erfreuten, standen jetzt Endrikat, Klotz und Hillbrink auf der kleinen Bühne des Kabaretts. Ihre heiter-besinnlichen oder witzig-gepfefferten Gedichte waren ein Ausgleich für den bitter ernsten Alltag der Zuhörer. Es war dort jeden Abend rammelvoll, man konnte dort bis in die Nacht sitzen, plaudern und trinken. Der Mittelpunkt aber dort war unsere Freundin Inge Scheck. Sie war ehemals eine hochbegabte Schülerin des Intendanten Otto Falkenberg an den Kammerspielen. Da Inge jedoch die Pünktlichkeit beizubringen war, mußte sie die hoffnungsvolle Laufbahn als Schauspielerin aufgeben. Sie ging danach zum „Simpl“, wo sie ihre speziellen Talente voll entfalten konnte. Sie war eine rassige Frau mit stark slawischen Zügen, großen schrägen Katzenaugen, einer Himmelfahrtsnase mit vibrierenden Flügeln, äußerst breiten Wangenknochen und mit einem kleinen sinnlichen Mund. Sie entsprach äußerlich dem Bild einer femme fatale. Meistens saß sie am Klavier und sang ihre melancholisch-frechen Lieder. Wir liebten sie, sie gehörte zu unserem Leben, sie war der kameradschaftlichste Mensch, den man sich denken konnte.

Ein anderer Treffpunkt war die „Osteria Italiana“ in der Ramberstraße, dort traf man abends beim Essen viele Bekannte. Wollte man besonders fein essen, dann ging man in die Innenstadt zum „Preysing“, „Schwarzwälder“ oder „Kakadu“. Da uns das Tanzen verboten war, verbrachten wir mit Freunden dort den Abend bei Kerzenschein in eleganter Umgebung festlich und heiter. Es gab eine ganze Anzahl beliebter Schwabinger Lokale wie die „Brennessel“, die „Seerose“, den „Werneckhof“ und das „Café Benz“ und andere mehr. Viele davon sind zerbomt.

In diesen Lokalen traf sich alt und jung, bekannte Künstler, Schauspieler, Literaten und all die vielen Anfänger, wie wir sie waren. Man saß buntgewürfelt an langen Tischen bei Bier und Wein. Wir Jungen lauschten hingegeben den Erzählungen der Älteren, über ihr Lebn vor dem Krieg in Paris, Berlin und Italien, und was sie über die Kunst aller Zeiten dachten. Am folgenden Tag waren wir ann noch eifriger bei der Arbeit, stolz, zu diesem Kreis von Bohèmiens zu gehören.

Die dritte Freundin im Bunde war Hilda Schwarzhaupt, sie war Jüdin und gewesene Reimann-Schülerin aus Berlin. Ihre Familie war bereits nach Amerika emigriert, weil sie auf ein Wiedersehen mit einem deutschen Soldaten hoffte, hielt sie in München noch der Gefahr stand, die sie umgab. Agalia, Hilda und ich machten an Wochenenden herrliche Ausflüge zu den umliegenden Seen, nach Starnberg, an den Ammersee, an den Tegernsee. Zum Schwimmen, Sonnen und Flirten gingen wir gern ins Prinzregentenstadion nach Bogenhausen oder bei Regen ging es in den „Carlton Tearoom“ an der Brienner Strasse. Einen kleinen Spaziergang machten wir gerne zum Kleinhesselohersee, wo man im Freien Tee trinken konnte.

Wir ließen uns kein gutes Theater in den Kammerspielen oder im Residenztheater entgehen, wir versäumten kein Konzert berühmter Pianisten, wir gingen in die Brunnenhofkonzerte in die Residenz, obwohl wir oft stundenlang für die Karten anstehen mußten. So vergingen die ersten Monate in München wie im Fluge - bis die Sommerferien begannen.

Wir hatten zwar oft Fliegeralarm, aber noch keine Bombenangriffe erlebt. Wir warenoch recht unbekümmert, allerdings doch auch immer in der Furcht, daß plötzlich alles anders werden könnte. Von Victor kamen Briefe in einer gewissen Regelmäßigkeit. Er schrieb nie genau, wo er sich befand oder ob er in unmittelbarer Gefahr war. Einmal schrieb er, daß er seinen Kameraden den „Cornet“ von Rainer Maria Rilke vorgelesen hatte.

Die Geborgenheit, die wir für einige Monate im Zusammnsein mit Gleichgesinnten innerhalb und außerhalb der Akademie empfunden hatten, sollte nun für die Zeit der sogenannten Sommerferien unterbrochen werden. Meine Mitstudenten wurden zum Ernteeinsatz in Polen oder zur Fabrikarbeit verpflichtet. Ich bekam von der Stadt München ein kostenloses Zimmer im Botanischen Institut in Nymphenburg, um meine Arbeit in den Lazaretten auch während der Semesterferien fortzuführen. Mein Zimmer in der Türkenstraße war mir gekündigt worden, weil ich meine jüdische Freundin für eine Nacht aufgenommen hatte. Ihre Zimmerwirtin hatte sie von eine Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt, als sie erfuhr, daß Hilda nichtarisch war. Für den zweiten Semesterbeginn hatte ich bereits ein neues möbliertes Zimmer in der Prinzregentenstraße angemietet. Mein Zimmer im Botanischen Garten bot mir die reinste Erholung inmitten schönster Gartenanlagen, umgeben von köstlicher Blütenpracht. Den mir zuletzt verbliebenen Ferienmonat verbrachte ich teils in Hannover, die übrigen 14 Tage aber reiste ich mit meiner Mutter und Huno nach Stolberg in den Harz und weiter nach Weimar. Es waren unvergeßliche Tage!

Dann begann ich im Herbst das zweite Semester. Ich bezog mein neues Zimmer, es war in all den Jahren das einzige Mal, daß ich außerhalb von Schwabing wohnte. Das Zimmer war mit Möbeln und Vorhängen im Bauhausstil eingerichtet und duftete nach Sauberkeit. Sonnendurchflutet und gepflegt war es der Inbegriff einer besonderen Wohnkultur. Gar bald wurde ich eines besseren belehrt - ich bekam Wanzenstiche. Das Personal empfahl mir, die empfindliche Wirtin nicht darüber aufzuklären. Sie bemühten sich vergebens, der Wanzen mit Insektenvertilgungsmitteln Herr zu werden. Als ich es schließlich vorsichtig der Wirtin zu sagen wagte, antwortete sie mir mit strahlender Miene: „Dann sind Sie ja ein Medium für Wanzen. Meine anderen Mieter klagen gar nicht mehr darüber. So hat es der Kammerjäger ja leicht mit nur einem Zimmer.“

Der Herbst und Winter 1940/41 war wieder reich an Unternehmungen. Charlotte (Didi) Goltz (1913-2002), Bildhauerin und Tochter des bekannten Kunsthändlers Goltz, lebte zusammen mit ihrer Mutter in einer großen Wohnung mit Atelier in der Leopoldstraße. Sie war eine Freundin von Prof. Toni Stadler (1888-1982) und seiner Frau, Priska von Martin (1912-1982) und Prof. Hans Wimmer (1907-1992), alle drei bekannte Münchner Bildhauer. In ihrem Atelier veranstaltete sie hin und wieder ein kleines Fest, genannt „Sans soussi“. Dazu lud sie 15-20 Studenten verschiedener Nationalitäten ein unter der Bedingung, daß jeder Gast ein Volkslied oder Volkstanz seines Landes darbot. Im Dämmerlicht der Kerzen wurden wir dabei aus dem Alltag heraus in einen verzauberten Zustand versetzt. Besonders fremdartig klingt mir noch der exotische Gesang eines Chinesen mit sehr hoher Stimme im Ohr.

Didi selbst tanzte mit unendlicher Grazie und Hingabe einen indischen Tanz, ihre fast kindliche Gestalt schien zu schweben. Sie beherrschte die symbolischen Handbewegungen meisterhaft, ein ehemaliger indischer Verlobter hatte es sie gelehrt. Mit ihrem schmalen, feinen Gesicht hätte sie selbst eine Inderin sein können, aber sie war blond und blauäugig. Als Zwölfjährige galt sie als Wunderkind, sie hatte überlebensgroße Negerplastiken geschaffen, die damals in der großen Kunsthandlung Bernheimer ausgestellt wurden. Nach dem Kriege verkaufte sie die Plastiken für Negerkirchen in den Vereinigten Staaten.

Gern auch gingen wir zu den Einladungen von Frau Martha Maria Düren, die Witwe eines Pianisten, sie war Jüdin. Sie hatte immer interessante Gäste. Wir fühlten uns wohl in der kultivierten Atmosphäre und fühlten uns bereichert durch die weltoffenen und klugen Gespräche. Frau Düren war uns eine mütterliche Freundin. Eines Tages rief sie uns an und sagte: „Meine lieben Kinder, ich bin in Gefahr. Bitte ruft nicht bei mr an, damit ihr nicht in Gefahr kommt durch mich.“ Wir sahen sie nicht wieder. Ihr Sohn hat uns nach dem Kriege über ihren Tod im KZ berichtet.

Die Ausstellungen im „Haus der Deutschen Kunst“ waren uns ein Greuel. Die bäuerlichen und bürgerlichen Familienbilder aus der Nachfolge der „Neuen Sachlichkeit“ waren von fader Starrheit, die nackten Mädchen des Herrn Ziegler wie farbige Aktfotos, die Plastiken von Thorak wie überdimensionale Marzipangebilde - ohne Monumentalität und Kraft. Arno Brekers pathetische Helden waren wie Reklame für‘s Bodybuilding.

Nach diesen Besichtigungen flüchteten wir ein paar Schritte weiter zur Kunsthandlung Gauß in die Königinstraße. Sie war getarnt als Hausmeisterwohnung mit Spitzengardinen und Geranien vor den kleinen Souterrainfenstern. Wir konnten uns dort Aquarelle und Zeichnungen von Franz Marc, Gerhard Marcks und anderen Modernen anschauen und kaufen, dort gab es Tagebücher und Briefe von Emil Nolde, die Dramen von Ernst Barlach und eine große Auswahl verbotener Literatur und von jüdischen Schriftstellern.

Ich habe dort viel gekauft, wahre Schätze. Leider ist mir später im Krieg alles abhanden gekommen. Auch beim Kunsthändler Günther Franke konnten wir in den hinteren Räumen große Beckmann-Bilder und Plastiken von Barlach sehen. Wir hatten in der Akademie eine reiche Kunstbibliothek, die noch nicht von den Nazis gesiebt war. Ich habe mir oft Bücher, die offiziell unerwünscht waren, ausgeliehen und im Akadamiegarten in aller Ruhe studiert.

Wieder traf mich eine schmerzliche Nachricht. Mein Bruder, der nach seinem Abitur ganz in meiner Nähe Architektur in München studieren wollte, hatte sich unter dem Druck seiner Lehrer freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet und wurde zur Ausbildung nach Brüssel verschickt. Er war erst 18 Jahre alt. Er bat mich, ihm Kunstblätter zu schicken, um damit die Wände seiner Behausung zu schmücken. Er liebte Musik, Kunst und Dichtung, es würde ihm schwer fallen, nun in einem rauhen Soldatenleben darauf verzichten zu müssen. Er schickte meinen Eltern und mir von seinem ersten Sold schöne Geschenke. Für mich hatte er zwei große Phaidon-Kunstbände von Maillol und Daumier ausgesucht, wundere Ausgaben von großem Wert für mich. Meine Freunde beneideten mich darum.

Als die Weihnachtszeit nahte, beschlossen die Verwaltungen der Akademien der Angewandten und der Bildenden Künste, im Künstlerhaus am Lenbachplatz gemeinsam ein großes Weihnachtsfest zu feiern. Ein Klassenkollege wollte dafür ein Theaterstück schreiben. Er und ich in den Hauptrollen, einige andere in den weiteren Rollen des kleinen Schwanks. Die Idee zum Stück war schnell geboren und es ging an die Ausführung. Da wir beide den Text schrieben, konnten wir ihn schnell auswendig lernen, während die anderen damit hinterhinkten.

Der große Abend begann im vollbesetzten Hause, unser Spiel war die erste Darbietung. Nachdem ich meinen Auftritt gut bestanden hatte, versagte der in seiner Rolle höchst wichtige St. Nikolaus völlig. Da er volltrunken mit schief sitzender Mitra die Bühne betrat, hatte schon so einen großen Lacherfolg. Als er dann auch noch den ganzen Text durcheinanderbrachte und reinen Blödsinn erfand, mußten wir uns notgedrungen auf ihn einstellen und aus dem Stegreif weiterspielen. Das Stück wurde dadurch viel lustiger und ein voller Erfolg.

Einmal im Jahr wurde für alle Akademiestudenten ein Wettbewerb für Malerei und Plastik ausgeschrieben zu einem bestimmten Thema. Mit der Bezeichnung „Belobung“ wurden die besten Arbeiten ausgestellt, der Beste des Faches wurde mit einem Geldpreis von 300 RM ausgezeichnet. Die Professoren der Akademie bildeten die Jury. Im Wintersemester 1940/41 hieß das Thema „Flüchtlinge“. Auch ich beteilgte mich und modellierte in Ton eine Gruppe Menschen, die sich in einer geschlossenen Form aneinander klammerten, die einzelnen Figuren waren reliefartig voneinander abgegrenzt. Durch das Linienspiel der Konturen kam Bewegung in den sonst ruhigen, großen Umriß. Leider wurde ich von Prof. Thorak als zu „Barlach-ähnlich“ abgelehnt. Tatsächlich war ich damals stark von Barlach beeinflußt, bis heute habe ich das Bestreben die geschlossene Kontur der Plastik zu bewahren. Was sich damals noch als bewegtes Linienspiel auf der Oberfläche darstellte, ist mittlerweile zu einem vom Kern der Plastik in den Raum dringende Kraft ausgereift.

Prof. Knecht war kinderlos, dafür hatte er für alle seine Schüler ein großes väterliches Herz. Eines Tages machte er uns die Freude, uns alle zusammen zu Wein und Kegeln in die „Osteria Bavaria“ einzuladen. Den Höhepunkt des Semesters bildete das große Klassenfest in der geräumigen Villa unserer Mitstudentin Fräulein Adam, Prof. Knecht war der Gastgeber. Er bat uns festliche Kleider zu tragen. Ich erinnere mich deutlich an diese Nacht voller Glanz, Übermut und Freude, wir tanzten bis in den Morgen. So ein Fest hat dann nicht wieder stattfinden können, weil nach und nach die Studenten in den Krieg mußten, kaum einer ist wiedergekehrt.

Innerhalb der Klasse hatte ich einen besonders herzlichen Kontakt zu Christa Brunotte, Marianne Lüdicke (* 1919), Natalie Gräfin von Hatzfeld und Etti Joeris. Wir hatten zusammen schöne Abende mit klassischer Musik, mit dem Lesen von Gedichten. Wir betrachteten Kunstbücher und diskutierten darüber, dazu gab es erlesene Weine aus dem gräflichen Keller. Aglaia, Hilda und ich waren befreundet mit einem Kreis schwedischer Studenten. Sie waren heitere und natürliche Menschen, unkompliziert und unbekümmert - was den Alkohol betraf. In ihrer Gesellschaft konnte man die Last des Krieges vergessen. Freundschaften mit Studenten des östlichen Auslands waren nicht gerne gesehen. Die Akademieleitung machte uns durch Aushänge an den Akademiewänden darauf aufmerksam.

Von Victor bekam ich weiter regelmäßig Post aus Frankreich, wo es ihm nicht schlecht zu gehen schien. Er war beglückt, mich bei meinem Kunststudium zu wissen und versprach mir, mich bei seinem nächsten Urlaub in München zu besuchen. Es wurde nur eine Stippvisite daraus, nach zwei Tagen fuhr er weiter zu seiner älteren Freundin, die in Schlesien verheiratet und Herrin eines Schlosses war. Da meine Eifersucht im Laufe der Jahre das erträgliche Maß überschritten hatte, faßte ich unter Qualen den Entschluß, mich von ihm zu trennen. Er verstand meinen Wunsch frei zu sein, und wir schrieben uns nicht mehr.
Es nahte das Semesterende.



aus:

Anna Maria Strackerjan
Lehr- und Studienjahre einer Bildhauerin
1937 - 45
in Hamburg, Berlin, Hannover, München

Aufgezeichnet im April 1977 (Typoscript)

Meiner Generation gewidmet