Hamburg

Noch im Schutze meiner Eltern löste ich mich aus verträumten ersten Jugendjahren und begann den Weg in die Zukunft, als wir - meine Eltern, mein drei Jahre jüngerer Bruder Huno und ich - 1937 nach Hamburg zogen. Bis dahin lebten wir in einer schönen ehemaligen Residenzstadt im äußersten Nordwesten Deutschlands. Klassizistische Bürgerhäuser, ein gutes Theater, viele Gärten und große, uralte Bäume zeichneten diese liebenswerte Stadt (Oldenburg) aus.

Zuerst mußte nun geklärt werden, welche Berufslaufbahn ich einschlagen sollte. Schon während der Schulzeit wünschte ich mir, Malerei zu studieren - doch rieten mir meine Eltern vorerst zu einem Beruf, der mich würde ernähren können. Da mir neben der Kunst die Literatur am meisten am Herzen lag, entschied ich mich für den Buchhandel.

Ich hatte das Glück, eine Lehrstelle in der sehr bekannten und exklusiven Buchhandlung Kurt Saucke (1895-1970, diese Buchhandlung gibt es noch heute, sie befindet sich in der Hamburger Paulstraße) in der Bergstraße zu bekommen. Das dunkle, schmale Haus fiel ins Auge durch seine dezent dekorierten Schaufenster. Ebenso war der Stil im Innern. Es gab keine aufdringliche Zurschaustellung der Bestseller, denn die beliebtesten dieser Art, umfangreiche amerikanische Romane führten wir nicht - auf Verlangen borgten wir sie beim Buchhandel auf der gegenüberliegenden Strassenseite, die ein anderes Image hatte. In unserem Geschäft herrschte die gewisse Atmosphäre für Bibliophile, die in Ruhe und Muße stöbern wollten. Den Kunden des Hauses wurden Leseabende der Dichter geboten, die in den Rahmen passten - besonders für Angehörige des Ludwig Klages-Kreises.

Kurt Sauke gab in jedem Jahr im Eigenverlag einen schmalen, erlesenen Band heraus in feinster Buchgestaltung. Unter anderem die "Philosophischen Briefe" von Schiller, "Liebesgedichte der Romantiker", "Carus - Briefe". Wir Angestellten erhielten durch seine Frau, die Germanistik studiert hatte, Unterricht in Literaturgeschichte in der Bibliothek seines Hauses in der Johnsallee. Auch gab es dort Abende für uns bei Wein und Kerzenschein, die jeweils einem Lyriker gewidmet waren. Es war uns erlaubt, jedes Buch, das wir zu lesen wünschten, mit nach Hause zu nehmen, und ich entdeckte dabei meine besondere Liebe für die russische Literatur und französische Lyrik des 19. Jahrhunderts. Jemand hat einmal gesagt, die Gestalten Dostojewskys seinen noch wie die freien, großen Vögel der Wildnis, während wir zu Haushühnern gezähmt seien. Dostojewsky bekam großen Einfluß auf mich - Hermann Hesse warnte bereits nach dem ersten Weltkrieg in seinen "Betrachtungen" die europäische Jugend vor dieser Verführung, weil wir im Westen nicht mehr über die Kraft des Ostens verfügen und daran scheitern, wenn wir so sein möchten wie sie.

Mein bescheidenes Lehrlingsverdienst wurde mir niemals ausgezahlt, weil ich mir damit meine Bibliothek zusammenkaufte. Ich mußte täglich die neu eingetroffenen Bücher auspacken, dabei geriet ich in eine wahre Sammelwut.

Nach einigen Monaten wurde mein Vater als Fregattenkapitän an das Kriegsministerium nach Berlin versetzt. Während meine Eltern und mein Bruder dorthin zogen, mußte ich meiner eben begonnenen Ausbildung wegen allein in Hamburg bleiben und bezog mein erstes möbliertes Zimmer. Ich geriet in das kultivierte Haus am Loogestieg, das Frau Alice Sauerlandt (5.6.1880 - 19.9.1972), ihre zwei Töchter und ein Sohn bewohnten. Alice Sauerlandt war Schülerin von Käthe Kollwitz gewesen und die Witwe des Kunsthistorikers und Direktors des Kunst- und Gewerbemuseums in Hamburg. Dr. Max Sauerlandt (1880 bis 1934) war ein leidenschaftlicher Förderer des Expressionismus gewesen. Als Hitler sein Lebenswerk zunichte machte, nahm er sich das Leben. Zum ersten Mal wurde mir dort der Despotismus der Nationalsozialisten bewußt, die Freiheit der Künste zu unterjochen.

An den Wänden hingen große Bilder von Emil Nolde, der ein Freund der Familie war und den ich dort persönlich kennenlernen konnte, er war ein schlanker weißhaariger Herr. In den Räumen umgaben mich Plastiken von Lehmbruck und Wolff. Äußerst harmonisch wirkte die Anordnung antiker und moderner Möbel - letztere vorwiegend im Bauhausstil - ebenso wie Gebrauchsgegenstände. Abends saßen wir alle zum Essen um den großen ovalen Mahagonytisch. Mit meinen erst 18 Jahren wurde ich zu einer faszinierten Zuhörerin der interessanten und lehrreichen Gespräche.

Was mir an Hamburg so gut gefiel war die durch die Binnen- und Außenalster im Zentrum der Stadt erzeugte heitere Atmosphäre. Die darauf fahrenden Fährdampfer, die Segelboote, die Möven ergaben mit den Wellen ein Bild flimmernder Bewegung in grau, silber und weiß. Bleibende Eindrücke dieser Zeit waren Theaterabende mit Gründgens ("Hamlet" in sehr manierierter Sprache und tänzerischen Gesten von Harald Kreuzberg beeinflußt), Tanzabende der Mary Wigman und ihrer Schule: Der Palucca, Harald Kreuzberg, die mir sehr viel mehr gefielen als die Ballettabende in der Oper. Diese Ausdruckskraft in den rhythmischen Bewegungen, die flieflenden oder strengen Gewänder, beeindruckten mich tief. Sie waren den modernen Skulpturen (Barlach, Lehmbruck) sehr ähnlich. Ich hörte Konzerte von Elly Ney, Walter Gieseking, Edwin Fischer. Ich war offen für alles, was meine künstlerische Neugier erregen konnte.

Zweimal die Woche ging ich abends in die Tanzkurse der Wigmanschule, die von ihrem Schüler Herrn Hubertus geleitet wurde. Jede Schülerin mußte nach anfänglicher anstrengender Gymnastik den zweiten Teil des Abends mit eigenen rhythmischen Tänzen gestalten. Es war eine Fortsetzung meiner seit dem 4. Lebensjahr betriebenen Gymnastik und Tanzkurse. Das daraus sich entwickelnde sichere Gefühl für Rhythmus, Raum und Körper kam meiner späteren Bildhauerei sehr zugute.

Mein Vetter Ludwig nahm mich mit zu Geselligkeiten des vornehmen Hamburger Ruderclubs. Sie waren nicht ganz das, was ich mir wünschte, denn die meisten waren junge Kaufleute, die andere Interessen hatten als ich, aber Tanz, Flirt und Spaß waren dort reichlich zu finden und darauf kam es in diesem Alter vor allem an.

Ich fühlte mich damals in jeder Hinsicht bevorzugt gegenüber meinen Altersgenossinnen, die den Arbeitsdienst irgendwo auf dem Lande abzuleisten hatten, fern von jeder Kultur. Da ich bereits im Berufsleben stand, war ich von dieser Pflicht befreit.

Ich bekam Sehnsucht nach Berlin, wo mein junger Freund Victor lebte. Auch war ich des Alleinseins ohne meine Familie müde. Ich bat Herrn Saucke, mich nach Abschluß des ersten Lehrjahres dorthin gehen zu lassen. Er wollte nur unter der Bedingung seine Zustimmung geben, daß ich in Berlin in einer ihm adäquaten Buchhandlung weiterarbeiten würde, wo meine bisherige Ausbildung entsprechend gewürdigt werden könne. Er schrieb ein Empfehlungsschreiben an den Buchhändler Buchholz in der Leipzigerstraße, der außer der Buchhandlung auch eine moderne Galerie besaß und Filialen im Ausland.

In den Weihnachtsferien fuhr ich nach Berlin und stellte mich Herrn Buchholz vor. In seiner Galerie zeigte er gerade eine Ausstellung des Bildhauers Blumenthal (1905 - 1942), der mir unbekannt war und mir außerordentlich gefiel. Seine archaisch gebauten Gestalten wichen weit ab von dem damals herrschenden Schönheitsbegriff. Er ist im letzten Krieg gefallen. Wir sind durch diesen Verlust um einen großen deutschen Bildhauer ärmer geworden.

Herr Buchholz bedauerte, daß er gerade vorher einen neuen Lehrling eingestellt hatte. Er vertröstete mich auf ein Jahr später. Ich aber wollte so bald als möglich nach Berlin übersiedeln und so machte ich mich selbst auf die Suche nach einer geeigneten Buchhandlung und wurde für den ersten April 1938 in der Buchhandlung Hugo Rother in der Potsdamerstraße angestellt.




aus:

Anna Maria Strackerjan
Lehr- und Studienjahre einer Bildhauerin
1937 - 45
in Hamburg, Berlin, Hannover, München

Aufgezeichnet im April 1977 (Typoscript)

Meiner Generation gewidmet